Leseprobe
Schienenherzen
Ich hatte alles
daran gesetzt, für diese Veranstaltung noch Karten zu bekommen und
sogar beim lokalen Fernsehsender angerufen, obwohl die Verlosung
schon beendet war. Es waren bloß ein
paar Sekunden gewesen – eine Überblendung –, in denen man sie
kurz durch das Bild gleiten sah, doch hatte das ausgereicht, etwas
ganz tief in mir zu berühren, was ich so schon sehr lange nicht mehr
erlebt hatte. Etwas, das mich mit Wärme und Licht erfüllte, wie die
lang herbeigesehnte Sonne nach einem viel zu langen und dunklen
Winter. Ich hatte Glück,
und der Sender schickte mir noch eines der heißbegehrten Tickets zu,
ohne dass ich überhaupt an der Verlosung teilgenommen hatte. Voller
Euphorie rief ich als Erstes meinen besten Freund Chris an, der mich
begeistert zu meinem Erfolg beglückwünschte. Anlass genug, noch am
selben Abend gemeinsam eine Flasche Rosèsekt Königsburg Muscat zu
köpfen. Damit stießen wir immer an, wenn es bei einem von uns einen
besonderen Anlass zur Freude gab oder ein lang gehegter Wunsch in
Erfüllung gegangen war. So wie damals, als
Chris vom Norden zu mir ins Ruhrgebiet gezogen war und wir nun
endlich gemeinsam im selben Haus wohnten. Auf diese Weise war
das edelsüße Zeug in den vielen Jahren unserer Freundschaft zu
einer Art Kultgesöff geworden. Immer dann, wenn es darum ging,
unsere Freude zu teilen und geteilte Freude gleich doppelte Freude
war. Jeder hatte seine
eigene Wohnung und somit sein eigenes Reich, wo er tun und lassen
konnte, was er wollte. Trotzdem hingen wir die meiste Zeit zusammen
ab, hatten uns immer etwas zu erzählen und feierten auf dem
Dachboden, den ich sonst als Atelier für meine Malerei nutzte,
ausgiebige Feten mit unseren Freunden. Oft war es Chris,
der zu etwas den letzten Anstoß gab. Der die Initiative ergriff,
wenn ich mich wieder einmal nicht entscheiden konnte, mit mir haderte
oder viel zu lange zögerte. So hatte Chris mich auch dazu ermutigt,
es nach Ende der Verlosung immer wieder beim Sender zu versuchen –
und es jetzt tatsächlich geklappt hatte. In genau einer Woche würde
ich ihr das erste Mal begegnen und mit ihr gemeinsam durch das
nächtliche Ruhrgebiet fahren. So stand es Schwarz auf Weiß auf
meinem Ticket, das ich nun wie eine Trophäe in meinen Händen hielt. Und dann endlich war
es so weit. Der große Tag, oder besser gesagt: die große Nacht, war
gekommen. Verrückt genug, mich morgens um halb drei aus meiner
warmen, gemütlichen Höhle zu wagen. Mich auf mein Fahrrad zu
schwingen und bis an das andere Ende der Stadt zu fahren...
... ich blieb jedoch stumm, überwältigt von ihrer Präsenz, die ich nun mit allen Sinnen erfassen konnte. Ich hörte sie atmen, oder vielmehr röcheln, während sie zum Stillstand kam. Umhüllt von Dampf und einer Melange aus Kohlenfeuer und heißem Maschinenöl, waren wir für einen kurzen Moment zu einer Einheit verschmolzen. Ich war ihr jetzt so nahe, dass ich deutlich die Hitze spüren konnte, die von ihr ausging. Fast körperlich spürte ich ihren Durst und die Anstrengungen jener durchfahrenen Nacht. Und erst jetzt fiel mir auf, das mein eigener Mund staubtrocken und mein Rücken nassgeschwitzt war ...
... Ich war wieder der
kleine Junge, dem man schon einmal das Herz herausgerissen hatte. Der
Elfjährige, der mit klopfendem Herzen und einem mulmigen Gefühl in
der Magengegend an der geschlossenen Bahnschranke stand. Gebannt und
voller Respekt vor dem, was da vielleicht heranrollte. Das Warten war jedes
Mal mit Ungewissheit verbunden, denn sie waren inzwischen selten
geworden, die schwarzen Ungetüme, deren Ruf und Grollen man schon
von Weitem vernahm und die eine mächtige grau-weiße Rauchfahne
hinter sich herzogen. Wenn sie mit ihren mannshohen Rädern und
wirbelnden Treibstangen ganz nah an mir vorbeizogen, bebte jedes Mal
der Boden und fühlte ich ein Kribbeln im Bauch. Für mich war es
eine Art Spiel, dem ich mich nicht entziehen konnte ...
... Seine Stimme im
Hörer klang anders und ungewohnt, während er mich jetzt mit meinem
Vornamen ansprach. Nun gab es für mich kein Zurück mehr. Das Herz
schlug mir bis zum Hals. Ich starrte auf den Bildschirm und
beobachtete aufmerksam jede noch so kleine Regung in Jochen Dinos
Gesicht, während ich begann, ihm von Jenny,
meiner ersten großen Liebe, zu erzählen. Obwohl Dino mich
nicht sehen konnte, war es, als würde er mir neugierig und prüfend
direkt ins Gesicht schauen. Als er verstanden hatte, worum es ging,
verzog er kurz den Mund, als wolle er ein Lächeln unterdrücken und
entschuldigte sich sofort für seine Reaktion. Selbst er, dem seine
Anrufer Nacht für Nacht mitunter die verrücktesten und seltsamsten
Geschichten erzählten, hatte offenbar noch nie davon gehört, dass
Menschen sich in Dinge verliebten und mit ihnen sogar ihre erste
Liebe erlebten. Doch in dem Moment, als Dino sich bei mir
entschuldigte, wusste ich, dass er mir glaubte. Damit war der Bann
gebrochen, und endlich konnte ich ihm meine Geschichte erzählen ...
*
Maschinenwesen
Es war, als käme da ein Wesen aus einer anderen Welt, aus einer längst vergangenen Zeit daher.
Die schwarze Maschine wirkte durch und durch maskulin und besaß die Wandlungsfähigkeit eines begnadeten Schauspielers.
Gut und böse, die perfekte Selbstinzenierung.
Das, was man da sah, war pure Körperlichkeit, Kraft und Bewegung.
Ein animalischer Androide, der in alle Rollen und doch in keine Schublade passte.
Er weckte tief verwurzelte archaische Gefühle, machte sprachlos.
" Bilder und Texte"
© O.Joachim
Stählerne Schönheit
... könnte ich Dich doch umarmen;
stählerne Schönheit Du
und Deinen mächtigen, warmen Leib fest an mich drücken,
der die rote, heiße Glut in Dir erahnen lässt.
Dich küssen auf Wonnewangen aus Stahl
und Deinen ständig lächelnden Mund.
Und stehen Deine Räder still
streiche ich zärtlich über
Deine eisernen Glieder.